Endstation Buenos Aires
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) liess aufgrund der Coronakrise bisher knapp 4'000 Schweizerinnen und Schweizer in ihre Heimat zurückfliegen. Eine davon ist die Luzernerin Andra Borlo mit Familie. Dass sie wieder zurück in der Schweiz sind, grenzt an ein Wunder, denn ihre Rückkehr begann mit einer dreissigstündigen Flucht quer durch Argentinien.
Andra Borlo glänzt seit vielen Jahren als ausdrucksstarke Sängerin an der Seite ihres Mannes Carlos Ramirez, der sie zu Blues-, Soul- und Latino-Kompositionen an der Gitarre begleitet. Zudem war die 51-Jährige, die mit bürgerlichem Namen Andrea Huber heisst, einer der politischen Köpfe, die vor eineinhalb Jahren gegen die Selbstbestimmungsinitiative kämpften. Mit einem einjährigen Familien-Sabbatical wollte sich die kreative Luzernerin vom Kampagnenstress erholen und wieder mehr Zeit für Musik und ihre 8-jährige Tochter Malena haben. Also packte das Trio im August letzten Jahres ihre Koffer und brach zu einer musikalischen Reise auf, die sie mit verschiedenen Konzertstopps von Kalifornien nach Argentinien – der Heimat ihres Mannes – führen sollte. Im Februar traf der Reisetross denn auch in Salta, im Nordwesten Argentiniens, ein. Bis dahin verlief ihre Reise ohne Zwischenfälle und obwohl erste Nachrichten aus China und Europa über das Coronavirus die Runde machten, nahm vorerst alles seinen gewohnten Gang. Sogar beim argentinischen Fussballklassiker River Plate gegen Boca Juniors anfangs März fanden sich 50'000 Fans ein. Bei dem Gedanken schmunzelt Borlo: «Ich weiss noch, wie ich Carlos fragte, ob die Argentinier eigentlich auch schon vom Coronavirus gehört haben.» Danach ging es plötzlich sehr schnell. Am 13. März kündigte der argentinische Präsident Alberto Fernàndez an, Massnahmen gegen das Coronavirus zu prüfen. Am 15. März beschloss die Regierung, dass sich einreisende Personen aus Europa, China, Südkorea, Brasilien und Chile in eine obligatorische Quarantäne begeben müssen. Am 16. März wurde Andra Borlo und ihre Familie während eines Ausflugs in einer Polizeikontrolle festgehalten. Grund war der Einreisestempel in ihrem Reisepass, der wenige Tage zuvor aufgrund einer einstündigen Stippvisite über die Grenze nach Bolivien zustande kam. «Die lokale Polizei verwehrte uns die Einfahrt in eine Touristenstadt, obwohl Bolivien gar nicht als Risikoland eingestuft war. Mit dem Hinweis, dass ich mich in Quarantäne begeben solle.» Was danach folgte, liest sich wie ein Kriminalroman. Hier das Protokoll einer aussergewöhnlichen Flucht.
17. März, Vormittag: drohende Obdachlosigkeit
Die Regierung Saltas beschloss, alle Hotels dicht zu machen. Zudem verbreitete sich die Information, dass alle Personen, die sich in den letzten zwei Wochen ausserhalb Argentiniens aufgehalten haben, in Zwangs-Quarantäne müssen, wie ein Lauffeuer. Obwohl dies von der Regierung gar nie so kommuniziert worden war. Dieses Schicksal würde bei einer erneuten Kontrolle auch Andra Borlo blühen. Die Familie entschloss sich deshalb, eine Wohnung in Salta zu mieten und sich da so lange einzuquartieren, bis das Datum des Einreisestempels um zwei Wochen überschritten ist. «Wir dachten, so hätten wir nach der Selbstquarantäne die Gewähr, uns wieder frei bewegen zu können.» Doch als der Hausbesitzer sah, dass sich eine Europäerin unter den Mietern befand, wollte er die Wohnung nicht mehr freigeben. «Das ist uns total eingefahren», erinnert sich Borlo mit Schaudern zurück.
17. März, 13 Uhr: ein folgenschwerer Entschluss
Salta wurde komplett abgeriegelt. Die Familie Borlo-Ramirez wusste, dass sie die Stadt sofort verlassen und nach Buenos Aires gelangen mussten. Zwar befindet sich die Hauptstadt am anderen Ende des Landes, aber in der Heimatstadt von Carlos Ramirez konnten sie eine Unterbringung organisieren und würden nahe beim Flughafen sein für eine mögliche Rückreise in die Schweiz. Doch wie ein Transport organisieren? Es existierten bereits keine Busse oder Flüge mehr, die auf dieser Strecke verkehrten. «Auch die Mietwagenfirmen blockten ab, weil sie vor dem Problem standen, dass niemand mehr in der Lage gewesen wäre, das Mietauto wieder nach Salta zurückzufahren», ergänzt Borlo.
17. März, 17 Uhr: eine Nacht- und Nebelaktion beginnt
Mit Maxi wurde schliesslich ein mutiger Einheimischer gefunden, der sich bereit erklärte, die Familie nach Buenos Aires zu fahren. Die grosse Herausforderung war, an den Checkpoints der Provinzgrenzen vorbeizukommen, ohne in Quarantäne gesteckt zu werden. Sobald sie eine Kontrolle passierten, tat Andra Borlo so, als würde sie schlafen. «Zum Glück hatte Maxi einen nordargentinischen Akzent, so konnte er die Polizisten immer wieder in Gespräche verwickeln und ablenken», erzählt Borlo. So schafften es die temporären Flüchtlinge unter höchster Anspannung durch rund 15 dieser Kontrollen. Stündlich wurden weitere Provinzen dicht gemacht. Sie passten permanent ihre Route an und nahmen zehn Stunden Umweg in Kauf.
18. März, 20 Uhr: Zwischenfall im Supermarkt
An einer öffentlichen Pressekonferenz verfügte die argentinische Regierung die obligatorische Quarantäne für alle Menschen im Land ab Mitternacht und schloss die Grenzen. Zwei Stunden vor ihrem Endziel Buenos Aires entfernt, fühlte sich Andra Borlo so sicher, dass sie sich zusammen mit ihrer Tochter traute, in einem Supermarkt das Nötigste einzukaufen. Dort wurde sie von zwei Uniformierten aufgefordert, ihre Ausweispapiere zu zeigen. Ein Mann, der am Einkaufen war, hatte Alarm geschlagen, als er Schweizerdeutsch hörte. Borlo hatte keine andere Wahl, – sie packte ihre Tochter und rannte zum Ausgang. Die aufgescheuchte Meute sprintete hinter ihr her. Mit quietschenden Reifen flüchteten sie vom Gelände.
18. März, 22.30 Uhr: Ankunft geglückt, aber noch keine Ruhe
Nach fast dreissig Stunden Fahrt kam die Familie endlich in der gemieteten Wohnung in Buenos Aires an. Doch auch da herrschte noch keine Sicherheit, denn sie wussten nicht, ob sie wegen dem Vorfall im Supermarkt gesucht oder von den Nachbarn als Touristen denunziert würden. 13 Tage waren sie in Buenos Aires eingesperrt, statt, – wie lang ersehnt –, Freunde und Familie zu sehen. «Carlos ging einkaufen, aber ich hatte nach all den Erfahrungen zu sehr Angst, einen Fuss vor die Tür zu setzen». In der Zeit weinte sie oft. Erst als Borlo mit dem Song «Astronauta» den letzten Musikclip der Reise auf der Terrasse ihrer Mietwohnung abgedreht hatte, und Freundinnen aus aller Welt Tanzeinlagen dafür aufnahmen, erhellte sich ihre Stimmung allmählich. «Musik wirkt bei mir Wunder», erklärt sie. «Es war ein stimmiger Abschluss dieser Reise.» Das Gefühl der Sicherheit kam allerdings erst zurück, als sie im Flugzeug in Richtung Schweiz sass. Obwohl Borlo traurig darüber ist, dass sie ihre musikalische Reise frühzeitig abbrechen musste, freut sie sich jetzt, wieder in der Schweiz zu sein. «Es ist einfach ein Privileg, sich frei bewegen zu können, auf den Sonnenberg zu spazieren oder ein Picknick im Eigenthal zu machen.»
Stefan Kämpfen