«Zeit für eine Modernisierung»
Der Buchrainer Livio Gisler plädiert für flexible Arbeitsstrukturen, um die Pflege-Abwanderung zu stoppen
Rund ein Jahr ist es her, als die Pflegeinitiative vom Schweizer Volk angenommen wurde. Bis diese allerdings Wirkung zeigt, bleibt der Pflegenotstand weiter Tatsache. Prekär ist die Situation vor allem in der Langzeitpflege, weshalb Livio Gisler als Botschafter der Kampagne «Karriere machen als Mensch» um mehr Fachkräfte weibelt.
Vor 9 Jahren startete Livio Gisler seine Laufbahn als Pfleger im Luzerner Akutspital St. Anna. Seither habe der Druck am Arbeitsplatz merklich zugenommen, wie er erzählt. «Die Patienten bleiben weniger lange und wir Pflegende haben weniger Zeit, sie zu behandeln.» Um sich dieser Laufbandarbeit zu entziehen, wechselte er in die Langzeitpflege und arbeitet mittlerweile in einem Seniorenzentrum im Kanton Zürich. «Hier steht weniger die Akutpflege, sondern mehr die Beziehungsarbeit im Vordergrund», erklärt Gisler. «Glücklicherweise sind wir bei meinem Arbeitgeber fachlich und personell gut aufgestellt, damit ich fast immer so arbeiten kann, wie es mein Leistungsanspruch vorgibt.» Dies könne er längst nicht von jedem Betrieb behaupten, bei dem er in den vergangenen Jahren Zwischenhalt gemacht hat. «Ich habe an Orten gearbeitet, wo mir förmlich die Haare zu Berge gestanden sind!», erzählt Gisler. «Manchmal hatte ich als Fachangestellter Gesundheit (FaGe) die komplette Tagesverantwortung. Da rennst du nur und gehst am Ende des Tages doch mit einem unguten Gefühl nach Hause – weil mehr drin gelegen wäre.»
Klischee überwinden
Dass vor allem in Altersheimen und in der Spitex Fachkräfte fehlen, beschäftigt Livio Gisler. «Die Langzeitpflege hat einen sehr schlechten Ruf – zu Unrecht!», findet der Buchrainer. «Wenn man Action sucht, kommt man im Akutspital sicher mehr auf seine Kosten. Bei uns hat man dafür die Möglichkeit, auf die Menschen einzugehen, denn ohne Beziehungsarbeit geht gar nichts.» Dazu brauche es lediglich eine gute Portion Geduld sowie eine gewisse Ruhe, um bspw. demenzerkrankten Menschen gerecht zu werden. «Das Klischee der Langzeitpflege ist eine repetitive Arbeit in einem düsteren, traurigen Umfeld», so Gisler. «Dabei entstehen im Alltag viele lustige Situationen, in denen man mit den Bewohnern zusammen lachen kann.»
Wo sind die Fachkräfte?
Grundsätzlich ist die Nachfrage für Berufe im Gesundheitsbereich ungebrochen. Im Kanton Luzern ist die FaGe-Lehre hinter dem KV gar auf Rang 2 der beliebtesten EFZ-Lehrstellen. Laut dem Bildungszentrum XUND fehlen in der Zentralschweiz bis 2029 dennoch über 10'000 Pflegefachkräfte. Dabei bedarf es hauptsächlich an Pflegefachpersonen mit Hochschulausbildung. Ein möglicher Grund in Luzern wurde nun in den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten für Pflege oder Pflegewissenschaften auf Bachelor- und Masterstufe gefunden. Studierende müssen aktuell dafür die Region verlassen und steigen dann oftmals andernorts ins Berufsleben ein. «Diese FH-Pflegefachkräfte fehlen in der Zentralschweiz», ist die Direktorin des Departements Soziale Arbeit der Hochschule Luzern Dorothee Guggisberg überzeugt. «Die HSLU und XUND wollen nun gemeinsam bedarfsgerechte Ausbildungsangebote im Bereich Pflege auf Fachhochschulstufe schaffen sowie im Bereich Medizintechnik/Life Sciences neue und bestehende Angebote weiterentwickeln, um diese Lücke zu schliessen.»
Offen für Neues
Auch Livio Gisler ist eine dieser Fachkräfte, die am zweiten Ausbildungsort hängen geblieben ist. «Tatsächlich weiss ich nur von einer Bekannten, die nach der Ausbildung wieder nach Luzern zurückgekehrt ist», bestätigt er. Dennoch glaubt Gisler nicht, dass man den Fachkräftemangel nur mit mehr Ausbildungsplätzen beheben kann. Seiner Meinung nach ist vor allem die hohe Anzahl der Berufsaustritte problematisch. «Eine neue Fachkraft mit Bewerbungsgespräch und Probezeit kostet den Betrieb eine Unmenge an Geld», weiss er. «Dieses Geld könnte man sinnvoller investieren, zum Beispiel in attraktivere Arbeitsbedingungen.» Gisler schlägt vor, die Strukturen offener und moderner zu gestalten. So sollen beispielsweise Teilzeitschichten vereinfacht und Individualwünsche ermöglicht werden. «Ich habe es in vielen Betrieben erlebt, dass sämtliche Bewohnenden zwingend gleichzeitig Frühstück essen mussten», erzählt der Buchrainer. «Das war ein Stress für alle.» Bei seinem jetzigen Arbeitgeber bekomme er mehr Spielraum, was für ihn wie auch für die Bewohnenden eine Erleichterung darstelle. «Jetzt kann ich die Klienten auch mal schlafen lassen und mich später um sie kümmern.»
Besonders interessiert schaut Gisler nach Schweden, wo alternative Arbeitszeitmodelle schon längst salonfähig sind. Bereits im Jahr 2016 berichtete die Pflegedirektorin Sabine Richter an einem Gesundheitspflege-Kongress in Hamburg vom sogenannten „3+3“-Arbeitszeitmodell: drei Tage arbeiten, drei Tage frei. Es handelt sich dabei um eine 85-Prozent-Anstellung – bei Vollzeit-Vergütung. „Um Personal zu gewinnen und zu binden, müssen Krankenhäuser neue Wege gehen“, ist Richter überzeigt. „Weil die Mitarbeiter sich besser erholen, sinken die Kosten für Krankheitstage um über 40 Prozent“. Weil die Dienstzeiten etwas verlängert sind, fallen über die Hälfte der Überstunden weg. Zudem spart der Arbeitgeber teure Recruiting-Kosten ein, weil weniger Mitarbeiter kündigen. „Nach zwei Jahren ist ein wirtschaftlicher Gewinn zu erwarten“, so Richter. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Bleibt abzuwarten, wie lange es dauert, bis solche Modelle auch in der Schweiz salonfähig werden. Irene Müller